Einführung
Warum Untersuchung der Wirbelsäule?
Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit mit steigender Prävalenz. Verschiedenste Erkrankungen manifestieren sich durch Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule. Sie können durch eine gute körperliche Untersuchung eingegrenzt und der entsprechenden Diagnostik zugeführt werden.
Varianten und Fehler: Die hier beschriebenen und gezeigten Untersuchungstechniken zeigen häufig nur eine mögliche Variante zum Vorgehen. Abweichende Techniken können ebenfalls zielführend sein. Etwaige Fehler bitten wir Sie gerne an uns rückzumelden.
Autor*innen: Ludger Keßel, Bert Huenges, Irmgard Streitlein-Böhme
Die Studierenden lernen bis zum 1. Semester des 2. Studienabschnitts:
– die Wirbelsäule zu untersuchen.
– Normalbefunde zu erkennen.
– die erhobenen Befunde in einfacher Form unter Verwendung des Statusbogens zu dokumentieren.
– Sorgen Sie für eine ruhige und vertrauensvolle Atmosphäre.
– Bitten Sie den*die Patient*in, sich so weit frei zu machen, dass Sie den gesamten Rücken untersuchen können.
– Prinzipiell ist eine Untersuchung im Stehen, im Sitzen sowie im Liegen möglich.
Unter dem Reiter Dokumentation erhalten Sie bei den einzelnen Untersuchungsschritten (Inspektion, Palpation, etc.) Hinweise und Beispiele zu deren Dokumentation.
Lernen Sie, normale und pathologische Untersuchungsbefunde zu dokumentieren.
Des weiteren erhalten Sie einen Einblick in Befunde möglicher Erkrankungen der einzelnen Organsysteme bzw. Regionen.
Inspektion
Bitten Sie den*die Patient*in, die Schuhe auszuziehen, sich entspannt hinzustellen, indem beide Beine gleichmäßig belastet sind und die Füße schulterbreit nebeneinander stehen.
– Beurteilen Sie den Stand der Schultern und des Beckens in Bezug auf die Horizontale.
– Beurteilen Sie das Krümmungsverhalten der Wirbelsäulenabschnitte von dorsal und lateral.
→ Erkennen Sie eine verstärkte Kyphose oder Lordose?
→ Besteht eine Fehlhaltung oder -stellung (z. B. Skoliose)?
→ Achten Sie auf Hautveränderungen, Narben, Entzündungs- und Verletzungszeichen.
Befunde Wirbelsäule: [1] Thorakal-Kyphose, [2] Skoliose und Korsett-Behandlung (links: Diagnostik, rechts: Therapie)
Tipp: Fahren Sie mit dem Finger die Dornfortsätze entlang, um einen Dermographismus auszulösen. So können Sie den Verlauf der Wirbelsäule leichter erkennen.
Tipp: Bitten sie den*die Patient*in, sich nach vorne zu beugen. So können Sie eine Skoliose besser beurteilen (Rippenbuckel).
Folgende Beispiele unterstützen Sie bei der systematischen Dokumentation Ihrer Befunde:
Normalbefund
“C7 und Rima ani in einer Linie und lotrecht, Schulter- und Beckenlinien parallel zueinander und zum Boden, Taillendreiecke symmetrisch, physiologische Kyphose und Lordose, symmetrische Rippenbögen auch beim Vorbeugen.”
Pathologischer Befund
„Es zeigte sich bei der Inspektion
– eine Lotabweichung der Linie C7-Rima ani.“
– ein Becken- / Schulterschiefstand.“
– eine Asymmetrie der Taillendreiecke.“
– eine Unregelmäßigkeit der Rippenbögen / ein Rippenbuckel / Lendenwulst.“
→ Hinweis auf z.B. Beinverkürzung, Skoliose
Palpation und Perkussion
Tastbare Orientierungspunkte der Wirbelsäule sind:
– Wirbeldornfortsätze C 7 und Th 1
– Schulterblätter (S)
– Darmbeinkämme (Cristae iliacae = Ci)
– Hintere obere Darmbeinstacheln (Spinae iliacae post. sup.)
– Dornfortsatz L 4: waagerechte Linie zwischen den Darmbeinkämmen kreuzt die Spitze des Dornfortsatzes L 4
– Vordere obere Darmbeinstacheln (Spinae iliacae ant. sup.)
Palpieren Sie die Dornfortsätze von kranial nach kaudal.
→ Besteht ein Druckschmerz?
Palpieren Sie die paravertebrale Muskulatur (pvMm) beidseits der Mittellinie.
→ Achten Sie auf Druckschmerz, Myogelosen und Atrophien.
Klopfen Sie die Wirbelsäule kräftig von kranial nach kaudal ab (obere HWS bis Os sacrum!).
→ Besteht ein Klopfschmerz?
Folgende Beispiele unterstützen Sie bei der systematischen Dokumentation Ihrer Befunde:
Normalbefund
“Kein Klopf- oder Druckschmerz über der WS, kein Druckschmerz und keine Verhärtungen bei Palpation der paravertebralen Muskulatur.”
Pathologischer Befund
– „Es bestand ein umschriebener Klopfschmerz in Höhe von WK X“ → Hinweis auf z.B. Bandscheibenvorfall, Tumor, Wirbelfraktur, Spondylitis
– „Es bestand ein diffuser Klopfschmerz über der gesamten WS“ → Hinweis auf z.B. Osteoporose
– „Auffällig war eine Stufenbildung in Höhe von WK X“ → Hinweis auf z.B. Spondylolisthese
– „Bei der Palpation der paravertebralen Muskulatur gab der Patient einen muskulären Druckschmerz in Höhe von WK X an / ließ sich eine muskuläre Verhärtung in Höhe von WK X palpieren.“ → Hinweis auf z.B. Fehlhaltung, Myogelose
Beweglichkeit der Wirbelsäule
Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Beweglichkeit eines Gelenks sowohl aktiv als auch passiv zu überprüfen, da sich hier bereits Hinweise auf verschiedene Pathologien ergeben können.
Prüfen Sie daher die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte…
… aktiv und passiv (HWS)
… aus praktischen Gründen lediglich aktiv (LWS/BWS)
Prüfen Sie die Beweglichkeit der HWS aktiv und vorsichtig passiv: Inklination, Reklination, Rotation und Seitneigung
-→ Eingeschränkt: z. B. bei Bandscheibenvorfall, Meningitis, rheumatischen Erkrankungen
-→ Bei kräftiger passiver Vorneigung des Kopfes beugt der*die Patient*in die Beine reflektorisch im Hüft- und Kniegelenk: sog. Brudzinski-Zeichen positiv (Meningismus/Nackensteifigkeit bei Meningitis)
Aktive Beweglichkeit der LWS/BWS: Flexion, Extension, Rotation, Lateralflexion (Seitneigung)
Die Beweglichkeit von LWS und BWS lassen sich im Alltag praktisch kaum trennen und können daher als Einheit betrachtet werden.
Tipp: Um eine Mitbewegung im Hüftgelenk zu vermeiden, fixieren Sie dabei die Hüfte mit Ihren Händen.
Bestimmen Sie den Fingerbodenabstand (FBA) → Der gemessene Abstand dient nur der Verlaufskontrolle.
Bestimmen Sie das Schober-Maß:
– Markieren Sie den Dornfortsatz von LWK 5.
– Messen Sie von hier 10 cm nach kranial ab.
– Markieren Sie hier den zweiten Messpunkt.
– Lassen Sie den*die Patient*in sich maximal nach vorne beugen und bestimmen Sie den Abstand zwischen den beiden Messpunkten erneut.
– Die normale Abstandsvergrößerung der Hautmarken beim Schober-Versuch beträgt 4-5 cm.
Bestimmen Sie das Ott-Maß:
– Gehen Sie wie beim Schober-Maß vor. Ausgangspunkt ist hier HWK 7. Messen Sie dann eine Strecke von 30cm nach kaudal ab.
– Die normale Abstandsvergrößerung beträgt 2-3 cm.
Folgende Beispiele unterstützen Sie bei der systematischen Dokumentation Ihrer Befunde:
Normalbefund
“WS allseits frei beweglich, kein Meningismus.”
Physiologischer Bewegungsumfang
HWS
Inklination / Reklination | 45° / 0° / 45° |
Lateralflexion | 45° / 0° / 45° |
Rotation | 60° / 0° / 60° |
BWS und LWS
Flexion / Extension | 120° / 0° / 30° |
Lateralflexion | 40° / 0° / 40° |
Rotation | 45° / 0° / 45° |
Ott – Test
29 – 30 – 32/33 cm (Reklination – Neutral Null Stellung – Flexion)
Schober – Test
7 – 10 – 14/15 cm (Reklination – Neutral Null Stellung – Flexion)
Finger – Boden Abstand
FBA 0 – 10 cm
Pathologischer Befund
Bewegungsumfang
HWS z.B. Lateralflexion 45° / 45° / 0° → in 45° Winkel fixierter Schiefhals
Flexion / Reklination 10° / 0° / 45° → Flexion eingeschränkt
Funktionstests
– „Beim Ott-Test betrug die Längenzunahme nur 1 cm.“ → Hinweis auf verminderte Beweglichkeit der BWS
– „Beim Schober-Test betrug die Längenzunahme nur 3 cm.“ → Hinweis auf verminderte Beweglichkeit der LW, z.B. bei Spondylitis ankylosans
– “Der FBA vergrößerte sich im Vergleich zur Voruntersuchung um x cm.“ → Hinweis auf verminderte Beweglichkeit der WS (cave: vielfältige Ursachen, FBA ist vor allem ein Verlaufsparameter)